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Jannis Grimm: "Repression und Restriktion: Ägyptens Zivilgesellschaft in der Defensive"

26.09.2016

Die Zivilgesellschaft in Ägypten erlebt eine verheerende Aus- oder Gleichschaltung durch staatliche Restriktionen. Die Rückkehr zum außenpolitischen Normalbetrieb droht diesen Zustand gar zu verfestigen.


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Bildquelle: Sarah Carr Flickr

Eine normativ aufgeladene Erwartungshaltung prägte Anfang 2011 die mediale Berichterstattung des Arabischen Frühlings – einer Metapher für den ersehnten Aufbruch des Orients aus autoritären Gewässern. Besonders der neu entdeckten arabischen Zivilgesellschaft attestierten Beobachter/innen dabei eine demokratiefördernde Funktion. Denn es war die Mobilisierung einer breiten bürgerlichen Koalition aus Arbeiter/innen, marginalisierter Mittelschicht, islamistischen Gruppen und einer gut organisierten aktivistischen Avantgarde, die im Februar 2011 das stabil geglaubte Mubarak-Regime zu Fall brachte. Fünf Jahre nach den ikonischen „18 Tagen des Tahrir“ und knapp drei Jahre nach der Entmachtung des ersten frei gewählten Präsidenten ist die Lage für Ägyptens Zivilgesellschaft allerdings prekär: Berlin, London, Istanbul und Doha bieten heute tausenden Aktivist/innen Schutz vor Verfolgung. Geschätzte 40.000 weitere sitzen aus politischen Gründen (z.B. wegen Verstößen gegen das neue Protestgesetz, das selbige de facto verbietet) und oftmals ohne rechtskräftige Verurteilung in ägyptischen Gefängnissen.

Zum Vergleich: Kuba hatte zu schlimmsten Zeiten etwa 1.000 politische Gefangene, Myanmar bis zu 3.000. Wem der Prozess gemacht wird, der erhält immer häufiger lebenslange Haftstrafen oder sogar Todesurteile. Diese werden zumeist in Massenprozessen und bisweilen durch gesonderte Militärtribunale verhängt, welche seit 2015 mehr als 3.000 Menschen abgeurteilt haben.

 

Seit Mitte 2013 mehr als 2.000 Zivilist/innen durch staatliche Gewalt getötet

Auch außerhalb der Gefängnisse wird es eng: Unabhängige Gewerkschaften stehen vor dem Aus, unliebsame Parteien wurden aufgelöst, die federführenden Organisatoren von Straßenprotesten (etwa die Jugendbewegung 6. April) sind verboten. Überdies sind Regimekritiker/innen immer häufiger von außergesetzlicher Staatsgewalt betroffen: Willkürlich festgesetzte Beugungshaft, Zwangsverschleppungen und Exekutionen gehören inzwischen zum repressiven Repertoire des Sicherheitsstaats und nehmen rasant zu. Als gesichert gilt, dass seit Mitte 2013 mehr als 2.000 Zivilist/innen durch staatliche Gewalt getötet wurden. Hunderte gelten als vermisst.

Ikonen der Revolution wie die Sozialistin Shaimaa al-Sabbagh zählen ebenso zu den Opfern wie unabhängige Dokumentare: Journalist/innen, Fotograf/inen und Wissenschaftler/innen gerieten zuletzt verstärkt ins Visier. Dies verdeutlichte im Februar 2016 der Fall Giulio Regeni: Der italienische Doktorand hatte in Kairo zum ägyptischen Arbeitskampf geforscht und damit offensichtlich eine rote Linie überschritten. Seine Entführung und Ermordung trägt die Handschrift des Sicherheitsapparats, eine unabhängige Untersuchung wird aber durch die Behörden torpediert.

 

Verengte Handlungsspielräume für NGOs seit Mitte 2013

Die Etablierung des wohl brutalsten Sicherheitsstaates in der Geschichte der Republik steht im Kontrast zum erweiterten Spielraum für zivilgesellschaftliche Akteure nach 2011: Im Zuge des staatlichen Kontrollverlusts über den öffentlichen Raum kam es zeitgleich zur Neugründung politischer Parteien zu einer Welle zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse. Bis zum Winter 2014 ließen sich 45.000 NGOs beim Sozialministerium als solche eintragen. Einige Gruppen vermieden allerdings, in weiser Voraussicht ob der begrenzten Schutzwirkung eines rechtlichen Status, schon damals eine Formalisierung ihrer Strukturen und bemühten sich stattdessen um alternative Unternehmensmodelle: Als Anwaltskanzleien, GmbHs oder Medienproduktionsfirmen versuchten sich besonders Gruppen mit strittiger politischer Zugehörigkeit (etwa zur mittlerweile verbotenen Muslimbruderschaft), und solche, die zu sensiblen Themen wie Folter oder Korruption arbeiten, der staatlichen Aufsicht zu entziehen.

Zu jenen, die eine Registrierung scheuten, zählen mehrheitlich die zwei Dutzend Menschenrechtsorganisationen, die in den vergangenen Jahren eine Führungsrolle im Kampf um Übergangsgerechtigkeit und eine Sicherheitssektorreform einnahmen. Gemeinsam mit einigen wenigen Journalistenkollektiven (z.B. Mada Masr) sind sie derzeit die einzigen verbliebenen zivilen Kräfte, die eine kritische Kontrollfunktion gegenüber dem Regierungshandeln wahrnehmen. Ihrer Bedeutung als Watchdogs steht zudem eine kritische existentielle Lage gegenüber: Hatten es oppositionelle Bewegungen bereits unter der Ägide des Obersten Militärrats schwer, so markiert erst Al-Sisis Machtübernahme den Beginn einer konzertierten Kampagne gegen jegliche Ausdrucksformen kritischer Zivilgesellschaft. Mohamed Zarea, der Leiter des Cairo Institute for Human Rights Studies, bezeichnete diese kürzlich als den bislang heftigsten Versuch, Ägyptens Zivilgesellschaft komplett auszulöschen.

 

Mehr als 175 Präsidialdekrete machen autoritäres Regieren ohne Notstandsgesetze möglich

Auch ohne eine Aufzählung aller Paragraphen, die aufgrund ihrer vagen Formulierung zur Unterdrückung herangezogen werden, wird klar, dass die seit Juli 2013 erlassenen, mehr als 175 Präsidialdekrete in ihrer Kombination einen restriktiven Rahmen abstecken, der autoritäres Regieren ohne Notstandsgesetze ermöglicht. Paradoxerweise hat ein Gesetz aus der Mubarak-Ära den gravierendsten Einfluss: Gemäß Gesetz 84/2002, bekannt als NGO-Gesetz, müssen sich alle bürgerlichen Vereinigungen formal auch als solche registrieren und damit ihre Arbeitsinhalte, Finanzen und Personalstruktur dem Sozialministerium unterstellen. Oberflächlich betrachtet eine Formalität beschränkt die Registrierungspflicht den Spielraum von NGOs massiv, die sich so z.B. verpflichten, durch ihre Arbeit nicht die „öffentliche Ordnung und Moral“ zu gefährden (Artikel 11).

Auch die Regeln zur Auslandsfinanzierung von NGOs (Artikel 17) werden neuerdings konsequent angewandt, um Kritiker rechtlich zu belangen. Auf ihnen basiert das laufende Verfahren Nr. 173, das mittlerweile Symbolcharakter hat und als Flaggschiff der politisierten Justiz im Kampf gegen die freie Zivilgesellschaft gilt: Bereits 2013 sind 43 Mitarbeiter/innen ausländischer Organisationen (u.a. der Konrad-Adenauer-Stiftung) in dem Prozess verurteilt worden. Drei Jahre später wurde der Fall wieder eröffnet. Diesmal sind ägyptische Menschenrechtsaktivist/innen im Fadenkreuz: Bekannte Menschenrechtler/innen wie der Journalist Hossam Bahgat (EIPR), der Anwalt Gamal Eid (CIHRS) und die Feministin Mozn Hassan (Nazra), wurden verhaftet oder mit Ausreisesperren belegt. Gegen Menschenrechtsorganisationen wird parallel ermittelt: Zuletzt ordnete ein Gericht im Juni die Konfiszierung der Vermögenswerte des Al-Andalus-Instituts für Toleranz und Studien zur Gewaltbekämpfung an.

 

Die außenpolitische Normalisierung stützt die Diktatur

Obgleich der Informationszugang zu Ägypten gestört ist, werden Beobachter/innen der Lage unweigerlich Zeugen zweier Tendenzen: Einerseits zeichnet sich ein Rückzug der Zivilgesellschaft in die Informalität ab. Öffentliche Foren zur sozialen Interessenvermittlung werden dabei graduell durch inoffizielle Kanäle zur Konfliktregulierung ersetzt. Damit einher geht die Aus- oder Gleichschaltung der ägyptischen NGO-Landschaft. Dies ist nicht nur ein Verlust für Ägypten, sondern auch für die internationale Zusammenarbeit: Ausländische Entwicklungsorganisationen, aber auch akademische Einrichtungen und Redaktionen verlieren ihren verlässlichsten Partner im Land, sowie den einzigen seriösen Zugang zu Informationen über Korruption und staatlichen Amtsmissbrauch.

Durch die Rückkehr zum außenpolitischen Normalbetrieb der Mubarak-Ära machen sich Ägyptens westliche Partner hieran letztlich mitschuldig: Denn die Eliten in Kairo werden durch die Signale des Westens vor allem in dem Eindruck bestärkt, dass die Beachtung menschenrechtlicher Standards gegenüber Investitionsinteressen und der angestrebten Normalisierung wirtschaftlicher Kooperation eher von nachrangiger Bedeutung sind. Schlimmer noch: Kurzsichtige bilaterale Maßnahmen wie die Unterzeichnung eines deutsch-ägyptischen Abkommens zur Sicherheitskooperation Mitte Juli 2016, senden das verheerende Signal, dass sich Europa mit dem autoritären Status Quo schon längst abgefunden hat.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst online bei der Heinrich Böll Stiftung und ist ein Beitrag aus dem Dossier: "Es wird eng – Handlungsspielräume für Zivilgesellschaft"